Über das Für und Wider von Diagnosen

Gewaltfreie Kommunikation (GFK)|Grundlagen|Selbstreflexion

Über das Für und Wider von Diagnosen

Heute schlachten wir mal das goldene Kalb der GFK und widmen uns dem Thema Diagnosen. Marshall Rosenberg hat sie in jedweder Form abgelehnt, weil sie den empathischen menschlichen Kontakt im Hier und Jetzt erschweren. „Diagnostizieren ist eine katastrophale Art der Kommunikation. Anderen Menschen zu sagen, was mit ihnen nicht stimmt, verringert die Wahrscheinlichkeit drastisch, dass wir bekommen, was wir uns erhoffen – nahezu auf null.“

Urteile über mich oder andere können wie eine Geschichte, die ich mir erzähle, zwischen uns stehen und verhindern, dass ich den individuellen, einzigartigen Menschen sehe, mit dem ich gerade zu tun habe. Stattdessen schaue ich mir nur das statische Bild an, das ich mir gemacht habe – den Depressiven, Narzisstischen oder einfach komischen Menschen.

Und tatsächlich kann die empathische Verbindung leicht gestört werden, wenn ich nicht im Hier und Jetzt bleibe. Da sich Urteile nicht verändern („Er ist halt so“), setzen sie einen Menschen quasi immer wieder aufs Startfeld zurück. Und doch können sie einen wichtigen Zweck haben.

Pferd oder Zebra

Im Hier und Jetzt gibt es nur einzelne Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und so weiter. Quasi ganz im Makrozoom ein Tierfoto betrachten, man sieht nur einzelne Fellhaare, weiß, schwarz, kurz oder lang. Aber mit ein bisschen Abstand betrachtet, formen diese Haare ein einzigartiges Fell, mit Streifen oder Flecken, die ein Muster bilden können. Diese Muster zu erkennen und zu benennen, kann unglaublich befreiend sein. „Mein Leben lang dachte ich, ich wäre ein komisches Pferd, aber jetzt sehe ich, dass ich ein Zebra bin!“.

So kann es zum Beispiel nach Jahren der Schwierigkeiten eine unbeschreibliche Erleichterung sein, zu erkennen, dass man auf dem autistischen Spektrum liegt, ADHS hat oder sonst wie neurodivers ist. Zu wissen, dass es Erklärungen für das eigene Erleben gibt, und das Andere ebenso empfinden, und dass man sogar lernen kann, in einer Pferde-Welt klarzukommen – für all das kann eine Diagnose der erste Schritt sein.

Um zu verstehen, warum Diagnosen einerseits hilfreich und andererseits trennend sein können, hilft es, zwei Modi zu unterscheiden.

Modus 1: Empathische Verbindung

Hier geht es darum, im Hier und Jetzt eine tiefe empathische Verbindung mit der anderen Person herzustellen. Hierbei werden sämtliche Bilder, Diagnosen und alles, was aus der Vergangenheit mitgebracht wird, außen vorgelassen. Es geht darum, die Einzigartigkeit und Individualität des Gegenübers vollständig zu erfassen und im hier und jetzt präsent zu sein. Dieser Modus fördert echte menschliche Nähe und Verständnis.

Modus 2: Analyse und Maßnahmen

Dieser Modus dreht sich um das Verstehen, Analysieren und Entwickeln von Maßnahmen und Strategien. Hier haben auch Diagnosen ihren Platz, als heuristische Abkürzungen und Phänomen-Beschreibungen, zum Aufdecken von Mustern, dem Verstehen der Vergangenheit und dem Planen der Zukunft.

Solange wir diese beiden Modi auseinanderhalten und sie jeweils dort einsetzen, wo sie ihre Stärken haben, können wir eine Balance finden, die sowohl empathische Verbindung als auch analytisches Verständnis ermöglicht.

„Also muss ich mich nicht ändern, ich bin halt so“

Es ist natürlich wichtig, Diagnosen nicht als Freifahrtschein zu benutzen. Jeder von uns hat Verantwortung für das eigene Verhalten und kann sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten bemühen, mit der Umwelt klarzukommen. Genauso wenig sollte eine Diagnose als endgültiges Urteil verstanden werden, um jemanden in Schubladen zu stecken „Das kannst du ja gar nicht verstehen, du als Autist…“. Jeder Mensch bleibt einzigartig und komplex, und die Diagnose ist nur ein kleiner Teil des gesamten Bildes.

Gesellschaftliche Diagnosen

Nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene sind Diagnosen hilfreich. Begriffe wie „strukturelle Gewalt“, „rassistisches System“ oder „systematische Probleme“ helfen uns, größere Muster in sozialen Systemen zu erkennen und zu benennen, die sich ansonsten in individuellen Einzelfällen auflösen. Das ist entscheidend, um die Ursachen von Ungerechtigkeiten und Missständen zu verstehen und anzugehen. Sie ermöglichen es uns, systematische Veränderungen zu fordern und umzusetzen, unabhängig davon, ob einzelne Mitglieder eines Systems individuell rassistisch, sexistisch etc. sind oder nicht.

Dazu an anderer Stelle mehr.

Wie siehst du das? Hast du persönliche Erfahrungen mit Diagnosen gemacht, die dir geholfen oder dich behindert haben? Hinterlass uns einen Kommentar und teile deine Gedanken und Erfahrungen. Wir freuen uns auf den Austausch!

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